Humboldt, Homo Deus & der Laufsinn
Abenteur vor 250 Jahren und Künstliche Intelligenz im Jahr 2020
In den letzten Wochen gab es zwei Bücher, die ich bemerkenswert empfand zu lesen. Zum einen war es Yuval Noah Harari mit HOMO DEUS – Eine Geschichte von Morgen. Zum anderen die Autobiographie Alexander von Humbolds. Dieser nimmersatte Wissenschaftler, der vor 250 Jahren barfuß auf die 6.000m hohen Gipfel des Chimborazo in den Anden gestiegen ist und sich durch den Amazonas gekämpft hat um zu verstehen, was die Welt im innersten zusammenhält. Beide Bücher haben eine hohe Schnittmenge an Gemeinsamkeiten, denn sie lassen erahnen, in welche Richtung wir uns im wahrsten Sinne des Wortes bewegen – nämlich in die völlig falsche Richtung.
Die aktuelle Generation X bzw. Y bewegt sich deutlich weniger als ihre Großeltern Anfang des letzten Jahrhunderts. Glaubt man den Auswertungen eines großen amerikanischen GPS-Uhren-Herstellers, dann macht ein 18-40 Jähriger heute im Durchschnitt gerade einmal 6.500-7.000 Schritte pro Tag. Beim Laufen sieht es noch dunkler aus. Die Masse der Menschen zwischen 18-40 Jahren läuft gerade einmal 1 bis 5 Kilometer – pro Woche. Nicht mehr ansteckende Krankheiten wie Pest, Typhus oder Hungerstod sind die Feinde der Menschheit. Statt dessen sterben mehr Leute an Depression, Krebs oder durch Fehlernährung & Mangelbewegung verursachte Krankheitsbilder. Zucker, Fettleibigkeit und Stress sind die Schlagworte. Hinzu kommt FOMO – die Angst, etwas zu verpassen (fear of missing out). Was aber hat jetzt der Laufladen Erfurt damit zu tun?
Die maximale Sauerstoff-Aufnahme-Kapazität & der Lauftreff
Meine Mannschaft und ich verstehen uns als Ansprechpartner für Menschen, die sich bewegen wollen oder schon bewegen. Bewegung im allgemeinen und Sport im besonderen muss kontrolliert werden. Was früher die Stempel in den Wanderbüchern waren, sind heute Segmente in den gängigen sozialen Sportplattformen. Ob ein Trainingsplan funktioniert, kann man nur durch Wettkämpfe, eine Leistungsdiagnostik oder andere Tests feststellen. Passt etwas nicht, muss der Plan angepasst werden. Moderne Uhren messen das bzw. geben etwas vor zu messen, was wir uns in der sportwissenschaftlichen Ausbildung mühsam erforschen mussten. Schrittlänge, Bodenkontaktzeit, Herzfrequenz, maximale Sauerstoffaufnahmekapazität (VO²max) und Schlafverhalten. Das führt teilweise zu sehr unterhaltsamen Begegnungen bei uns im Laufladen. Neulich meinte eine Dame, sie sei am Boden zerstört, weil alle ihre (männlichen) Lauffreunde eine deutlich höhere VO²max hätten. Und sie wolle da jetzt auch mithalten können. Andere Läufer sind überrascht, wenn wir Ihnen den Zusammenhang vom Drang nach permanenter Erreichbarkeit und einer zu geringen Herzfrequenzvariabilität erläutern. Letztere lässt nämlich Rückschlüsse über die Entspannungsfähigkeit zu. Andere würden dazu Resilienz sagen. Das klingt zwar gleich viel hochtrabender ändert aber nichts an der Bedeutung.
Warum laufen wir eigentlich?
Die Fähigkeit zu entschleunigen wird die große Herausforderung der nächsten 10 bis 20 Jahre im Sport. Das Problem dabei ist, dass wir a) mit der begleitenden Technik wie dem neuesten Top Modell der gängigen Hersteller und b) den Trainingsinhalten meist gar nicht mehr entspannen können. Einerseits werden alle wichtigen Parameter von den modernen Hochtechnolgieuhren aufgezeichnet. Anderseits geht es wie vor 2000 Jahren darum, mich und meine Leistung mit anderen zu vergleichen. Wer war schneller auf dem Teilstück meiner Lieblingslaufstrecke? Warum ist meine Schrittlänge nur so kurz im Vergleich zu den schnelleren Läufern? Warum habe ich noch keine „Gefällt mir“-Reaktionen auf meine letzte Aktivität erhalten.
Das erste was man bei den meisten Läufen im Ziel beobachten kann, ist das Teilen aller möglichen Werte und Eindrücke mit der großen digitalen Welt. Natürlich gehört das Füttern der Sozialen Medien heute zur digitalen Welt. Aber muss man den voll und ganz aufgehen als sogenannter Prosumer – also der Mischung aus Produzent und Konsument? Um Missverständnissen gleich vorzubeugen rede ich hier nicht von Leistungssportlern oder der Creme de la Creme an Hobbysportlern die mit dem Sport Geld verdienen möchten und auch sollen. Es geht mir um die Entwicklung, dass der gesamte Gesundheitssport digitalisiert wird und jegliches Körpergefühl scheinbar verloren zu gehen scheint. Wenn ich mit Patienten nach einem Herzinfarkt arbeite, ist es elementar notwendig, eine verlässliche Anzeige der Herzfrequenz zu haben. Diese Sportler sollen sehen, ab wann sie in einen für sie nicht gesunden Bereich kommen. Wenn jedoch der Otto Normal Sportler am Berg auf dem letzten Loch pfeift, ist offensichtlich, dass seine maximale Sauerstoffaufnahmekapazität erreicht ist. Auch erschließt sich mir nicht, weshalb ich während der sportlichen Aktivität den Eingang einer Email angezeigt bekommen muss. Selbst der heilige Vater oder die Oberbefehlshaber von Atommächten dürften für wichtige Entscheidungsfindungen entsprechende Vertreter haben. Immerhin laufen sie ja keinen 100 Meilen Trail außerhalb der Zivilisation.
Mihály Csíkszentmihályi und das Gefühl des Flow
Wohin aber soll sich unsere Gesellschaft im Gesundheitssport entwickeln? 2-3 mal die Woche für eine Stunde Ausdauersport betreiben zählt als gesund. Sport, Bewegung, Laufen soll ausgleichen. Laufen soll frei machen. Nicht ohne Grund sprechen wir vom FLOW Gefühl. Diese Wahrnehmung des eins sein mit der Umwelt, mit der Anstrengung, mit dem eigenen Können ist selten aber wahrnehmbar. Dazu darf man jedoch nicht un-achtsam sein sondern muss sehr aufmerksam darauf achten, was im Körper geschieht. Mit der Geburt und dem ersten Öffnen der Augen sind wir es gewohnt, alles außerhalb unseres Körpers zu betrachten. Wir werden beeinflusst von unserer Umwelt und unseren sozialen Gruppen in denen wir verkehren. Wir projizieren Erwartungshaltungen an uns auf andere und umgekehrt. Was wir nicht machen, ist in uns selber hinein zu hören. Ab wann fängt mein Körper an mehr Laktat zu produzieren, als er abbauen kann? Ab wann schlägt das Herz so schnell, dass ich es nicht mehr mit der Ausatmung kontrollieren kann? Ab wann ist für mich das Auswerten von Daten wichtiger als das Aufgehen im Tun, im hier und jetzt, im Laufen an sich? Zugegeben sind wir inzwischen an einem sehr tiefgründigen Punkt in der Diskussion angekommen. Wir sind auch bekannt dafür, anders zu sein als andere Kollegen im Geschäft der Laufprofis. Wir sind aber auch der Meinung, dass es nur um das Laufen und sich bewegen geht. Das ist keine Raketenwissenschaft sondern simple Evolution. Was jedoch inzwischen geschieht, ist eine reine Kommerzialisierung der Industrie am Konsumenten. Die Aufgabe des Läufers besteht darin, sich dem freien Konsum hinzugeben. Das inzwischen auch nach der sexuellen Aktivität oder Menstruationszyklen in einschlägigen Clouds gefragt wird, haben die wenigsten Nutzer mitbekommen. Das sind Dinge, die interessieren mich, meinen Partner, meinen Hausarzt und höchsten noch meinen Trainer. Nicht wissen sollten das jedoch die Programmierer und Analysten der großen Hersteller von Trainingsuhren.
Yoga, Meditation, Erlebnisläufe und lange ruhige Dauerläufe in der Gruppe. Das ist der gesunde Weg zum alt werden. Gepaart mit alternativen Trainingsformen wir Skilanglauf, Schwimmen, Krafttraining oder auch Spielsportarten helfen sie, sich ganzheitlich zu bewegen und weder motorisch noch intellektuell zu verkalken. Wenn man dann noch bereit ist, sich hin und wieder einmal aus der Komfortzone heraus zu bewegen, verschieben sich die eigenen Grenzen weiter. Es geht ja nicht darum, mit dem Fahrrad um die Welt zu fahren oder barfuß auf den Mont Blanc zu rennen. Es geht darum, neue Trainingsreize zu setzen und sowohl dem Geist als auch dem Körper ein Leben lang zu fordern und zu fördern.